Ich möchte im folgenden den Versuch unternehmen, das Konzept des Panoptismus, wie es in der einfachen architektonischen Idee des „Inspection house“ verwirklicht wurde, kurz zu erläutern sowie die Implikationen und den eigentlichen Sprengstoff dieses Konzepts aufzuzeigen. Auf die Genese der Idee werde ich allerdings nicht weiter eingehen, ich begnüge mich mit der Feststellung, dass Jeremy Bentham (1748-1832), der Begründer des ethischen Utilitarismus, mit dieser Idee reformerisch-didaktische Absichten und humanitäre Ideale im Sinne einer ethischen Besserung der Häftlinge verband.
Die vielseitig einsetzbare Struktur dieses besonders effektiven Überwachungs-
mechanismus lässt sich leicht darstellen: In der Mitte eines Gebäuderings steht ein Wachturm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, die sich zur Innenseite des Rings öffnen. Das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede einzelne durch die gesamte Tiefe des Raumes reicht. Sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach außen, das andere auf die Fenster des Turms gerichtet, so dass die Zelle beidseitig von Licht durchdrungen wird. Mithin reicht es aus, im Zentrum einen Aufseher unterzubringen und ein zu beobachtendes „Objekt“ in jeder der einzelnen Zellen in Quarantäne zu halten, um den erwünschten Effekt herbeizuführen. Der Aufseher kann ohne Unterbrechung die Silhouette jedes einzelnen Gefangenen scharf umrissen erkennen, während er selbst niemals Gefahr läuft, von den Gefangenen gesehen zu werden.
Michel Foucault hat dem Bentham-Panoptikum in seiner „Überwachen und Strafen“ betitelten Untersuchung über die moderne Disziplinargesellschaft und ihre Herausbildung ein ganzes Kapitel gewidmet. Seiner Darstellung zufolge revolutioniert das Panoptikum als Meilenstein in der Entwicklungsgeschichte der Disziplinargesellschaft räumliche Machtstrukturen auf fundamentale Weise:
- Es ersetzt die Realität der Überwachung durch die bloße Potentialität des Überwachtwerdens, somit lässt es erstens Macht zwar sichtbar sein, aber uneinsehbar, und steuert zweitens Wahrnehmungsprozesse und Informationsflüsse in assymetrischer Weise
- Es garantiert das Funktionieren der Macht durch die Verlegung des aus den Machtverhältnissen resultierenden Drucks in das Innere des Gefangenen
- Es verspricht eine größere Rentabilität sowie eine Ökonomie der Gewaltmittel
- Es konstituiert ein offenes, dynamisches Überwachungssystem, in dem selbst die Überwachenden durch Außenstehende kontrolliert werden, und in dem zusätzlich wissenschaftliche Experimente quasi in vitro abgehalten werden können. Es ist also zugleich Labor und eine Art anthropologische Menagerie
- Schließlich verhindert es dennoch Komplizenschaft und Verschwörungen auf horizontaler Ebene durch Isolierung, Vereinsamung und räumliche Parzellierung potentieller Machtfaktoren
Damit wären die wesentlichen Charakteristika des Panoptikums genannt, wobei noch zu klären bliebe, inwiefern sich diese zu einer einheitlichen Funktionsweise verschränken. Dabei scheint es mir wichtig, auf die noch heute gültige Methode dieser multipel einsetzbaren Überwachungsapparatur hinzuweisen. Es ist eine eindeutig analytische Vorgehensweise: Individuen werden als Körper im parzellierten Herrschaftsraum angeordnet und eine amorphe Masse ebenso wie eine soziale Gemeinschaft an Verbrechern, Arbeitern, Kranken, Irren oder Schülern wird in ihre atomaren Bestandteile zergliedert. Eine solche Herrschafts -und Disziplinierungsmethode führt einen schleichenden Umformungsprozess herbei und analysiert, insofern sie Beobachtungsergebnisse wissenschaftlich bewertet, stets auch die Wirkung des eigenen Beobachtens. Diese selbstreferentielle Form der Beobachtung ist in der Tat problematisch, wenn auch ein in Kauf zunehmender Nebeneffekt, ein Systemfehler des Entwurfs.
Betrachtet man das Panoptikum vor dem Hintergrund der europäischen Aufklärung, gleichsam als eine Schattenseite derselben, so ergibt sich zunächst ein nennenswerter Gegensatz zum Habitus des traditionellen Kerkers: Dieser verbirgt das Böse oder Abnorme in der Dunkelheit vor den zudringlichen Blicken der Gesellschaft, er bannt es auf eine fast mythisch zu nennende Weise und macht daraus ein Arkanum. Das restlos rationalisierte Panoptikum hingegen spottet dieser Aura nur Hohn. Eine totalitäre Transparenz erhellt vormals entlegene Tabuzonen des Menschlichen, humanitäre Utopien werden unter dem Selbstlauf einer Macht akkumulierenden Praxis zermahlen, Symbolik und personengebundene Autorität der Herrschaft werden reduziert auf eine scheinbare Objektivität der Überwachung, die letztlich die Unmöglichkeit einer anderen Realität suggeriert. Dieser Scheinform von Objektivität steht allein die Subjektivität der Überwachungsvermutung gegenüber. Das, was man die Entropie des Menschlichen nennen könnte, wird besonders wirksam zur Erstarrung gebracht.
Der Panoptismus als höchst subtiles Prinzip, das sich durch den Fortschritt der Überwachungstechnologien immer größere, nicht mehr rein phänomenale Anwendungsgebiete erschlossen hat, taucht heutzutage wieder vermehrt in der Semantik politischer Debatten auf und hat sich auf dem populären Mediensektor bekanntlich international als Soap-Variante durchgesetzt.
Meine abschließende These ließe sich zugespitzt folgendermaßen formulieren:
Die wirklich interessante, vielleicht etwas zynische Frage ist jedoch, inwiefern heutzutage (schon) eine pathologische Überwachungsmanie besteht, so dass die Selbstaufgabe der Freiheit, unbeobachtet zu bleiben, als Privileg erscheint.